Die Mutprobe (2004)

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Wer Mitglied der „Weißen Geister“ werden wollte, musste eine Mutprobe bestehen. An einem grauen, kalten Novembertag waren Lisi und Dominic dran. „Ihr schleicht heute Nacht auf den Dachboden der verlassenen Villa!“, verkündete Hannes, der Anführer der „Weißen Geister“. Hannes musste keine Mutprobe machen, der dachte sie sich nur aus. „Als Beweis, dass ihr nicht gleich wieder abgehauen seid, fotografiert ihr durchs Dachfenster die Turmuhr, um zehn und um Mitternacht.“ – „Da soll es spuken“, sagte Lisi. Hannes grinste. „Hab ich auch gehört. Also bringt irgendwas Unheimliches mit, ein Stück Gespensterkleid, einen Totenkopf, eine rostige Kette. Irgend so was. Klar?“
 

"Hannes ist ein Mistkerl!“, flüsterte Lisi, als sie mit Dominic um halb zehn vor dem rostigen Gartentor der Villa stand. Das Tor quietschte abscheulich. Die Haustür war natürlich zu, also kletterten sie durch ein zerbrochenes Fenster. Seite an Seite schlichen sie durch das stockdunkle Haus, bis sie endlich vor der steilen Treppe standen, die zum Dach­boden hinauf führte. „Oh Gott“, hauchte Lisi. „Ich glaub, da oben jammert was!“ – „Quatsch, das ist bloß die morsche Treppe“, behauptete Dominic. Aber als sie oben vor der Dachbodentür standen, hörte er es auch. Ein leises Jammern „Lass uns abhauen!“, rief Lisi hinter ihm „Nein!“ Dominic zog eine Dose aus seiner Jackentasche. „Außerdem habe ich einen Pfefferspray bei mir.“ „Der hilft doch nicht gegen Gespenster!“, sagte Lisi. Doch da hatte Dominic die Tür schon aufgemacht. Grelles Licht blendete sie. Ein eisiger Luftzug sog sie durch die Tür wie ein Staubsauger, ließ sie wie Blätter durch die Luft wirbeln und warf sie hart auf den Boden. Das Ganze ging so schnell, dass die zwei nicht einmal zum Schreien kamen. Ganz verwirrt saßen sie da, die Gesichter voll klebriger Spinnweben und blinzelten in das blaue Licht, das den gesamten Dachboden erleuchtete.  
 
Es kam von einem dicken, fast durchsichtigen Mann, der wie ein Riesenluftballon in der Mitte des Raumes hing und verzweifelt seinen linken Fuß schüttelte. Am großen Zeh klemmte eine Mausefalle. „Zer-plaaaatzen werde ich!“, rief der Geist. „Punkt Mitternacht, wie ein rohes Ei! Was für ein Unglück!“ Lisi und Dominic starrten mit offenem Mund zu ihm hinauf. „Ich flehe euch an!“, jammerte der Geist. „Befreit mich von diesem scheußlichen Ding. Solche Fallen lassen uns Geister zerplatzen! Nur dazu sind sie gemacht! Ich flehe euch an, befreit mich und ich erfülle euch jeden Wunsch!“
 
„Was meinst du? Er sieht nicht besonders gefährlich aus, oder?“, flüsterte Dominic Lisi zu und bevor sie antworten konnte, ging er schon auf den jammernden Geist zu. „Die ist wirklich nicht für Geister gemacht“, sagte er, „das ist eine stinknormale Mausefalle.“ Dann ließ er das Ding aufschnappen. „Endlich!“, rief der Geist, schwoll auf die doppelte Größe an und schwebte in die Höhe, bis er an die Dicke prallte. Dann schrumpfte er wieder etwas zusammen und verbeugte sich so tief vor den beiden, dass er sich die Nase an den eigenen Knien stieß. „Wünscht euch etwas, edle Kinder!“, sagte er so laut, dass sämtliche Spinnen aus ihren Netzen fielen. Und das taten Dominic und Lisi…..
 

Drei Tage später trafen sich die „Weißen Geister“ in ihrem Geheim­versteck. „Lasst sehen“, sagte Hannes. “Was habt ihr mitgebracht?“ Lisi legte die Fotos von der Turmuhr vor und Dominic stellte eine leere Coladose vor Hannes auf den Boden.
 

„Mann, das ist wirklich unheimlich!“, sagte Hannes und grinste. „Eine Coladose. Da schlottern einem die Knie. Tja, ihr beiden, das wird wohl nicht reichen. Da ….“ Weiter kam er nicht. Die Coladose fing an zu zischen wie ein Dampfkessel und heraus schwebte der große Geist. „Der dort, edle Kinder?“, fragte er und zeigte auf Hannes, der weiß wie ein Champignon wurde. „Genau, der“, antworteten Lisi und Dominic. Da hielt der Geist Hannes seine bleiche Riesenhand hin. „Zeit für deine Mutprobe, Winzling!“, rief er. „Los, steig in meine hand.“ Aber Hannes machte drei Schritte zurück. „Ab sofort sind Mutproben abgeschafft“, flüsterte er. „Gut zuhören!“, rief Lisi und kletterte mit Dominic auf die Geisterhand. Hoch, hoch in die Luft hob der Geist die Kinder, bis sie wie Käfer aussahen.  
 

Unser Dichterteam
 


Illustrationen von:
    Robert Steinegger
    Jenny Ernst
    Stefan Pachner
    Saskia Osoinig

Hannes Kren


Tami Pfingstl


Lisi Koubek

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